Daniel Hornuff über den Kunstbetrieb als Castingshow
aus: KUNSTZEITUNG, Mai 2018, Nr. 261, S. 3
Weltweit übernehmen kollektive und partizipative Formen des Kuratierens Verantwortung – und setzen dabei immer stärker auf die Anerkennung eines Publikums, das längst nicht mehr bereit ist, sich durch Deutungsvorgaben einzelner Kuratorenstars beeindrucken zu lassen. Das Ende kuratorischer Großbotschaften geht einher mit der Wertschätzung von Menschen, die interessiert genug sind, sich ihr eigenes Bild der Dinge zu machen.
Doch der Rollenwandel vollzieht sich nicht in abgeriegelten Laboren. Das sich neu ausbalancierende Verhältnis zwischen kuratorischen Leitungen und Kunstpublikum ist Symptom einer insgesamt veränderten Öffentlichkeits- und Kommunikationskultur. Die scheinbar klare Trennung in sendende Elite und empfangende Masse ist ein Relikt vordigitaler Zeiten – sofern es solche Trennungen überhaupt je gegeben hat! Wer heute auf Instagram ein Foto postet, sendet dieses oftmals nur, weil er Bilder rezipiert hat, die ihn überhaupt erst zum Produzieren angeregt haben – mit der Folge, dass sich eine bislang ungeahnte (visuelle) Kommunikationspraxis etabliert.
Im Umkehrschluss entstehen hieraus neue Herausforderungen: Wie lässt sich in der allgemeinen Ästhetisierung der Lebenswelten überhaupt noch ein künstlerisches Zeichen setzen – ohne dass dieses Zeichen vom millionenfachen Bildermachen einfach geschluckt wird? Kann es das Künstlerische im Sinne eines Exklusiven überhaupt noch geben in einer Welt, in der Gestaltung, Kreativität und Produktivität die Imperative eines scheinbar gelingenden, weil wettbewerbsorientierten Lebens markieren?
Die Antwort ist so lapidar wie ernüchternd: Die Idee von einem Punkt, der aller Bezüge entledigt wurde und radikal autonom existiert, erweist sich einmal mehr als typisch westlicher (deutscher?) Traum, gehegt von romantisch-avantgardistischen Geistern. Deutlich wie nie steht vor Augen: Die großen Kunstevents adaptieren mit größter Selbstverständlichkeit ein Muster, das als zentral für die Erzeugung von Aufmerksamkeit angesehen wird. Konkret handelt es sich um das Muster der Erzählung: die Konzentration auf die Story zur Intensivierung von Markenbildung und Kundenbindung.
Wie dieses Muster funktioniert und dabei verfängt, lässt sich präzise etwa an der TV-Sendung "Germany’s Next Topmodel" (GNTM) studieren. Diese Sendung kondensiert das Storytelling zum Genius loci eines Marktes, der durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit seine ökonomischen Chancen verbessern will: Die Warenförmigkeit der angehenden Models wird forciert, indem jede Teilnehmerin mit einem spezifischen (emotionalen) Typus geradewegs aufgeladen und in Situationen gebracht wird, in der dieser Typus Geschichten schreibt: in denen er Persönliches preisgibt, sich in Konflikten verstrickt oder Vorurteile bestätigt. Heidi Klum fungiert dabei als nur scheinbar entscheidende Instanz – die eigentliche Auswahl trifft das Publikum, das in der jeweils letzten Folge der Staffeln nicht nur tatsächlich abstimmen darf, sondern zuvor bereits indirekt mitwirkte, indem seine (vermuteten) Erwartungen bedient wurden.
Ketzerisch gefragt: Verhält es sich vor, während, auf und nach den großen Ausstellungsevents des mitteleuropäischen Kunstsystems wirklich kategorial anders? "Warteten Biennalen und Biennalesken nur mit einem Defilee etablierter Positionen auf", so die Beobachtung des Kunstwissenschaftlers Jörg Scheller, "würden sie ihren Wünschelrutencharakter einbüßen, der dem Besucher Goldgräberstimmung verheißt."
Als umso stärker erweist sich das Bedürfnis, Typen zu lancieren, mit denen sich packende, dramatisierende, aktivierende, konfrontierende Geschichten erzählen lassen. Newcomer und Etablierte, robust-politisch Engagierte und feingeistig-subversive Ästhetizisten, Marktanklagende und Marktaffirmierende, Kunstgeschichtsspottende und Kunstgeschichtshuldigende: Dies sind nur einige der gängigen role models moderner Kunst.
Die Casting-Show hat als TV-Format den Zenit ihrer Faszinationskraft eingebüßt. Dies wohl aber nur, weil ihre Mechanismen ubiquitär geworden sind. Die Fragen, die sich nun stellen, liegen auf der Hand – und sie sind keineswegs neu: Wer schreibt eigentlich die Geschichten? Warum ähneln sich die Geschichten immer wieder? Und welche Geschichten können Publikum und Kuratoren schreiben, wenn sie sich ihrer veränderten Rollen noch bewusster werden?