Über die digitalen Möglichkeiten von Kunst und Design und deren Bewertung
aus: KUNSTZEITUNG, Mai 2017, Nr. 249, S. 17.
Als Vorhut der digitalen Kunst wollte sich Google präsentieren, als das Unternehmen bereits 2015 die Virtual Reality-App Tilt Brush samt Entwicklungsteam einkaufte. Gefeiert als „Experiment“, ging einige Zeit später die Online-Plattform Virtual Art Session online. Seither lassen sich dort eigens engagierte Designer und Künstler dabei beobachten, wie diese mithilfe der App dreidimensionale Kunstwerke schaffen.
Ausgestattet mit VR-Brillen erzeugen die sechs Protagonisten – Textil- und Autodesigner, Illustratoren, Bildhauer, Straßen- und Installationskünstler – durch bloße Handbewegungen scheinbar frei schwebende Gebilde. Der besondere visuelle Reiz liegt dabei in der Möglichkeit, als Zuschauer das Setting ebenfalls in eine tiefenräumliche Bewegung versetzen zu können, folglich also das Werk parallel zu seiner Entstehung aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.
Doch was sich als medialer Aufbruch in neue künstlerische Sphären geriert, erweist sich als ziemlich öde Spielerei. So fällt vor allem die ästhetische Unbeholfenheit der halb gezeichneten, halb modellierten Darstellungen auf: Einem Tennisplatz mit Spielern, einem Sportwagen ohne Fahrer und irgendwelchen Fluggeräten haftet der Versuch pseudo-expressionistischer, exaltiert-gestischer Striche an. Anstatt das Projekt dafür zu nutzen, über spezielle technologische Möglichkeiten adäquate Themen, Sujets und Formen zu finden, wird allein auf den Effekt einer individuellen Bewegbarkeit gesetzt.
Damit wird deutlich, welche Stellung das Unternehmen Kunst und Design zuweist. Unter dem Vorwand, beiden Professionen durch das eigene technologische Know-how neue Ausdrucksweisen zu verschaffen, werden Kunst und Design als bloße Zulieferer eines Kreativität-Images eingespannt. Sind Design und Kunst für viele Menschen noch immer mit dem romantischen Versprechen auf radikale Innovation, Risikobereitschaft und Experimentierfreude belegt, verstärkt Google diese Stereotypen, um sie seiner technologischen Leistungsschau als ästhetische Legitimation unterzuschieben.
Wenig überraschend also, dass die App mit wenigen Klicks zu erwerben ist – was wiederum die Suggestion beinhaltet, jeder sei nun in der Lage, an die Spitze der professionellen Design- und Kunst-Produktion aufzuschließen. Wer also fortan mit Riesenbrille und Joystick im Wohnzimmer rumfuchtelt, kann sich mit Google den Eindruck verschaffen, Teil einer ästhetischen Avantgarde zu sein.
Doch sieht man von den ökonomischen Interessen ab, wirft das Projekt die viel grundlegendere Frage auf, was eigentlich genau passiert, wenn digitale Werkzeuge mit Design und Kunst in Verbindung gebracht werden. Genauer: Vollführt die Digitalisierung denn wirklich eine ästhetisch-technologische Revolution? - immerhin wird in diesem Zusammenhang geradezu reflexhaft daran erinnert, dass das Digitale inzwischen „sämtliche Lebensbereiche“ durchdringe, dass insbesondere Design und Kunst ein „grundsätzlicher Wandel“ bevorstehe, ja dass überhaupt fraglich werde, was unter ihren Bezeichnungen denn noch zu verstehen sei.
Solche und ähnliche Anrufungen sind bekanntlich nicht neu – im Gegenteil: Sie gehören zu den beliebtestes Routinen einer aufgescheuchten Intellektualität, die in jedem technologischen Wandel Anzeichen eines Kulturinfarkts auszumachen weiß. So deuteten Philosophen die Geburt der Schrift als den Tod oraler Kultur; protestantische Theologen die ersten romanlesenden Frauen als den Niedergang der Phantasie; Kunstkritiker die Entdeckung von Fotografie und, später, die Entwicklung des Films als das Ende von Malerei und Theater; wiederum Philosophen (die ihrerseits überlebt zu haben scheinen!) in Fernsehen und Rundfunk die Aushöhlung sozialer Gemeinschaft. Heute wissen wir: Sprache, Phantasie, Malerei, Theater und soziales Miteinander dauern an, auch wenn sie – wie seit ehedem! – alles andere als selbstverständlich sind.
So lehrt die Geschichte, dass es gute Gründe für eine aufmerksame Gelassenheit gegenüber technologischen Entwicklungen gibt. Das aber bedeutet: Weder das apokalyptische Pathos der Kulturkritik noch die siegestrunkene Euphorie des Fortschrittsoptimismus erweisen sich als hilfreich. Einzig zwischen den Extremen lässt sich produktiv und entsprechend kritisch auf den Wandel blicken – um beispielsweise zu zeigen, dass die „Virtual Art Session“ kein „Experiment“ dokumentiert, sondern allenfalls ein modernetypisches Kunst- und Design-Klischees verstärkt.